© Land NRW / Uta Wagner

Große Ehre für Mimoun Berrissoun und 180 Grad Wende: Die Landesregierung NRW hat Mimouns Engagement gegen Orientierungslosigkeit, Radikalisierung und Kriminalität mit der Mevlüde-Genç-Medaille gewürdigt. Übergeben wurde die Auszeichnung am 28.05.2020 in der Staatskanzlei in Düsseldorf von Ministerpräsident Armin Laschet.

 Ministerpräsident Armin Laschet: „Mimoun Berrissoun leistet mit seinem Projekt „180 Grad Wende“ Großartiges: Er macht biographische Wendemanöver möglich. Mit Prävention und sozialer Arbeit gibt er gemeinsam mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern jungen Menschen aus benachteiligten Milieus Perspektiven, bevor sie in Extremismus und Kriminalität abgleiten. Dieses Netzwerk mit vielen ehrenamtlich Tätigen schafft es, jungen Menschen Orientierung zu geben, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu entwickeln und eine persönliche Zukunft aufzubauen.“

Gerade in Zeiten der physischen Distanz ist diese Auszeichnung eine ganz besondere Würdigung. Sie zeigt, wie wichtig es ist, auch in von Unsicherheiten geprägten Krisenzeiten den Zusammenhalt nicht zu verlieren. In seiner Ansprache fand Mimoun dafür passende Worte: „Miteinander und menschliche Nähe sind das Wirksamste, womit wir dem Virus der Menschenfeindlichkeit begegnen können. Dadurch unterscheidet er sich von allen anderen – das wissen wir aus langjähriger Arbeit.“

180 Grad Wende engagiert sich mit bedarfsorientierten Projekten in der sozialen Arbeit und Prävention. Jungen Menschen sollen Chancen aufgezeigt und eröffnet werden um ihnen zu ermöglichen eine positive Veränderung in ihrem Leben und ihrem Umfeld herbeizuführen. Damit soll auch gegen Perspektivlosigkeit, Radikalisierung und Kriminalität vorgebeugt werden. Unterstützt wird die Initiative dabei vom Bundesfamilienministerium im Rahmen des Bundesprogramms Demokratie leben! und dem Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration und weiteren Unterstützern und Partnern. Mimoun Berrissoun und ein NRW-weites Netzwerk aus engagierten Ehrenamtlichen möchten für junge Menschen als Vorbilder, Mentoren und Vermittler fungieren.  

 

Mevlüde Genç als Vorbild für Toleranz, Versöhnung und friedliches Miteinander

 

Die Mevlüde-Genç-Medaille wurde zum zweiten Mal vergeben. Sie geht zurück auf Mevlüde Genç. Sie und ihr Mann Durmuş Genç verloren zwei Töchter, zwei Enkelkinder und eine Nichte, als in der Nacht des 29. Mai 1993 vier rechtsextreme Jugendliche Brandsätze in das Haus der Familie Genç in der Unteren Wernerstraßen in Solingen warfen. 

17 Familienmitglieder wurden zum Teil sehr schwer verletzt und leiden noch heute an den Folgen dieser schrecklichen Tat.

Die Landesregierung NRW hat die Mevlüde-Genç-Medaille am 18. Dezember 2018 für besondere Verdienste um Toleranz, Versöhnung zwischen den Kulturen und um das friedliche Miteinander der Religionen gestiftet. Die erste Mevlüde-Genç-Medaille des Landes Nordrhein-Westfalen wurde am 28. Mai 2019 an den Duisburger Verein „Jungs e.V.“ verliehen.

Quelle: Land.NRW 

Die komplette Rede:

 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Frau Staatssekretärin, verehrte Gäste,

Mevlüde Genc gehört für mich zu denjenigen Vorbildern, von denen ich meist verspätet in den Geschichtsbüchern lese – von denen ich mir dann wünsche, dass ich Sie getroffen hätte. Mit einer solch bedeutenden Medaille ausgezeichnet zu werden, die ihren Namen trägt – den Namen einer unter uns lebenden Heldin – ist für mich daher eine ganz besondere Ehre, der ich mit größter Dankbarkeit und tiefster Demut begegne.

Ich sehe diese hohe Auszeichnung als Anerkennung und Würdigung meiner Arbeit mit allen Menschen bei 180 Grad Wende und eine Würdigung aller Menschen, die eine ähnliche Arbeit leisten. 180 Grad Wende erreicht in NRW viele junge Menschen und Erwachsene: unsere Präventionsarbeit umfasst Empowerment-Angebote, Schulprojekte, Berufsorientierungsmaßnahmen, Beratungsangebote und vieles mehr.

Dank der Unterstützung des Landesintegrationsministeriums und des Bundes, helfen wir Ehrenamtlichen in einem NRW-weiten Netzwerk dabei, aus der Community heraus Engagement gegen Hass und Gewalt zu organisieren. Ich erspare ihnen an dieser Stelle eine lange Projektpräsentation und lade sie alle gerne dazu ein, bei uns vorbeizukommen, sobald es die Situation erlaubt. Diese Auszeichnung gebührt daher allen Ehrenamtlichen, Hauptamtlichen, Unterstützern, Groß und Klein, Alt und Jung, die hierzu ihren Beitrag geleistet haben oder leisten. 

Diese Würdigung ermutigt uns und mich, weiterzumachen und nicht aufzugeben. Viele junge Menschen brauchen Chancen, einen Motivationsschub, den Schulterklopfer von der richtigen Seite, um ihren Lebensweg zu gehen: geschützt vor Kriminalität und Extremismus, ohne Hass, in Frieden.

Mevlüde Genc soll Menschen wie mir weiterhin eine Inspiration sein. Ich persönlich lerne viel von ihrer Haltung – es geht um Versöhnung und als ob das nicht schon mehr als genügen würde – geht es um noch viel mehr: es geht um DIE Siegesformel im Kampf gegen Hass und Menschenfeindlichkeit. Frau Genc ist ihrer Zeit weit voraus und wir können als Gesellschaft und Individuen noch viel von ihr lernen: Lassen sie mich daher zwei Gedanken formulieren, die ich aus ihrem Wirken mitnehme:

Zwei Dinge sollte man über Extremisten wissen:
Erstens: Extremisten möchten uns das Gefühl geben, dass sie die Mehrheit sind, für die Mehrheit sprechen, eine kleine, unbedeutende Minderheit, die schreit und schreit und schreit, um lauter und größer zu wirken, (um mich hier eines Bildes aus der arabischen Sprache zu bedienen – eines andalusisch-arabischen Dichters). Sie sind wie eine kleine Katze, die sich fauchend aufbläht und aufplustert, um wie ein Löwe zu wirken.

Zweitens:
Das Kalkül von Extremisten ist durchschaubar und einfach: Sie greifen Unschuldige an, mit der bewussten Absicht, eine Gegenreaktion zu provozieren. Diese Reaktion nehmen sie zum Anlass, Anhänger von der Richtigkeit ihres Handelns zu überzeugen, Sichtbarkeit für sich zu erzeugen und ihrem Hass und ihren Gewalttaten einen Schleier der Legitimation zu verleihen. In ihrer Wunschvorstellung – ihrer kranken Phantasie – dreht sich die Spirale der Gewalt und des Hasses immer weiter fort, bis die Gesellschaft auseinanderbricht und das soziale Gefüge zerreißt.

Besiegen kann man sie nur, wenn man diese Strategie durchschaut und den Kreislauf des Hasses durchbricht. Und anstelle des Hasses dazu motiviert wird, erstrecht selbstverständlicher Teil der Gesellschaft zu SEIN, als Mensch und auf Augenhöhe. In einem Land, in dem der Muezzin ruft und die Kirchen läuten – und Menschen auf Balkonen sich gegenseitig zur Ermutigung applaudieren und musizieren, aneinander glauben, zusammenstehen, partizipieren und füreinander einstehen – wie wir es währen der Krise dieses Jahr erleben durften, ist die Hintergrundmelodie für einen solchen Triumph des Miteinanders schon längst geschrieben worden.

Als bevölkerungsreichstes und vielfältiges Bundesland ist NRW für dieses gelebte Miteinander wie geschaffen. Wir erleben unser Land als einen Ort, in dem jeder Mensch Mensch sein kann. Ich bin das Kind einer marokkanischen Gastarbeiterfamilie; mein Vater kam Ende der 60er-Jahre als 17-Jähriger, um in den Minen nicht nur Kohle zu scheffeln, sondern sein Glück zu finden. Wie das Leben sich so entwickelt, kam meine Mutter nach, eine kleine Familie entstand. Wie viele der neu Dazugekommenen in der langen Migrationsgeschichte dieses Landes haben sie in dieser Gesellschaft ihren Platz gefunden.

Ich finde, wir leben in einem Land, in dem wir alle gemeinsam – trotz unserer Differenzen – wie unterschiedliche Familienmitglieder unter einem gemeinsamen Dach unterschiedliche Interessen haben können, unterschiedliche Hobbys, miteinander lachen, miteinander weinen, und auch mal richtig streiten, uns in die Haare kriegen können (der ein oder andere hat das während der Corona-Krise wahrscheinlich hautnah erlebt), aber auch ein Ort wo wir alle gemeinsam trotzdem eine Familie bleiben.

Frau Genc hat SIE, Herr Ministerpräsident, vor zwei Jahren mal „Bruder“ genannt. Sie hat ihre persönliche Verbundenheit zu Ihnen als Mensch betont. Und sie hat so diese universelle Geschwisterlichkeit aller Menschen zum Ausdruck gebracht. Man muss nicht andere hassen, um sich selbst lieben zu können.  Ich hatte die Ehre, mit Kofi Annan zusammenarbeiten: einem Menschen, von dem ich viel lernen durfte. In Erinnerung wird mir ein Satz bleiben, den er bei seiner Nobelpreisrede 1998 das erste Mal sagte: „We can love what we are, without hating what we are not.“ Zu Deutsch: „Wir können lieben, was wir sind, ohne zu hassen, was wir nicht sind.“

In Virus-Zeiten sollten wir auch den Virus der Menschenfeindlichkeit nicht außer Acht lassen: ihn gab es auch schon vor Covid-19, ihn gibt es auch heute, er geht viral, bringt uns an unsere Grenzen und er setzt sich – wie wir nur unschwer wissen – lange in den Herzen der Menschen fest.

Herr Ministerpräsident, sie haben uns, dankenswerter Weise, zur Eindämmung des Virus in den letzten Wochen zu physischer Distanz aufgerufen. Und sie haben uns auch unter ihrer Amtszeit unter anderem durch die Vergabe dieser Medaille an die Distanzierung von Hass und Gewalt erinnert – aber auch an die Wichtigkeit von sozialem Miteinander und menschlicher Nähe.

Letzteres ist das wirksamste, womit wir dem Virus der Menschenfeindlichkeit begegnen können –dadurch unterscheidet er sich von allen anderen– das wissen wir aus langjähriger Arbeit. Begegnen können wir ihm nur mit der unendlichen Kraft der Liebe. Liebe die keine Grenzen kennt, Liebe die farbenblind ist und Liebe die sogar an diejenigen glaubt, die nicht an sie glauben… Liebe, wie Sie Frau Mevlüde Genc vorlebt.

Wäre sie heute hier, ich hätte ich die Rede nochmal auf Türkisch abgelesen. Wir lassen sie auf jeden Fall übersetzen und ihr zukommen, und lernen sie hoffentlich noch persönlich kennen. Lassen sie mich aber wenigstens diese Worte auf Türkisch, über ihre Familie an sie richten: „Mevlüde Teyzem, Allah sükür, bu büyük bir serefdir. Bu beni su ayete hatirlattir “Ve seni ancak alemlere rahmet olarak gönderdik.“ Ben seni bu rahmet geliyende almak istiyorum.        Allah senden cok razi olsun.“

Ich bedanke mich für diese Auszeichnung und wünsche innbrünstig, ihrer würdig zu sein.