Am Ende der Osterferien 2017 habe ich gewohnheitsmäßig meine Nachrichten in der WhatsApp-Gruppe gecheckt. Ich bin Klassenlehrerin der 20a und kommuniziere mit meinen Studierenden regelmäßig auch über das Smartphone. Dabei fiel mir mit Erschrecken das Profilbild meiner Schülerin Sonia [Name von der Redaktion geändert] auf. Es stellte eine Gruppe von circa neun vollverschleierten Frauen dar, die die Fahne des sogenannten Islamischen Staates einrahmten. Ich war völlig außer mir. Aus heiterem Himmel sah ich mich in meinem Kölner Schulalltag mit islamistischen Terrorismus konfrontiert.
Auf der Suche nach Rat
Ich hatte das Gefühl, sofort handeln zu müssen. Ich hielt Rücksprache mit meinem Schulleiter und wir sahen uns veranlasst, das Hinweistelefon „Islamistischer Terrorismus“ des Bundesamtes für Verfassungsschutz anzurufen. Dort hörte man mir zwar aufmerksam zu, aber ich erhielt überhaupt keine praktische oder sonstige Hilfe, wie die Schule als Institution und ich als Klassenlehrerin auf dieses bedrohliche Foto reagieren sollten. Ich hatte das Bedürfnis, meiner Schülerin helfen zu wollen und ihr beizustehen, zumal mir bewusst war, wie menschenverachtend Frauen im IS behandelt werden. Für den Verfassungsschutz war sie eine Täterin, die verfassungsfeindliche Symbole gezeigt hat. Für mich handelte es sich um meine Schülerin, der ich gerne helfen und beistehen wollte.
Ein Rückblick
Ein kurzer Rückblick: Ich unterrichte Sonia seit fast drei Semestern. Zu Anfang kam sie unverschleiert und in luftiger Sommerkleidung zum Unterricht. Wenige Wochen später trug sie ein Kopftuch und nach drei weiteren Monaten verschleierte sie sich noch stärker, etwa in der Art, wie ich es von katholischen Nonnen oder streng gläubigen Muslima kenne. Fortan war der Haaransatz durch einen zusätzlichen Sichtschutz unter dem Kopftuch verdeckt. Ich sprach sie freundlich und interessiert auf ihr neues Outfit an. Sie meinte, dass sie den Islam als ihre neue Religion entdeckt habe und sehr begeistert davon sei. Ich habe sie, unbeeindruckt von ihrer Kleidung, immer weiter angespornt. In meinen Fächern strengte sie sich an und erzielte manchmal schöne Erfolge.
Veränderungen
Ich registrierte, dass sie auf der Online-Plattform unserer Schule als Profilbild islamische Schriftzüge postete, jedoch hielt ich das für harmlos. Hellhörig wurde ich, als sie an einer Klassenfeier nicht mehr teilnehmen wollte, weil andere Studierende Alkohol tranken. Sonia war nie eine Außenseiterin und immer bestens in die Klassengemeinschaft integriert. Jetzt begann sie, sich von den anderen abzusondern. Sie fing an, den Kontakt zu muslimischen Klassenkameraden zu meiden, mit denen sie vorher gut befreundet war. Nach zwei Semestern im vergangenen Januar erzählte sie mir, dass sie schwanger sei. Ich motivierte sie, sich nicht sofort beurlauben zu lassen, sondern das kommende dritte Semester noch vor der Entbindung zu absolvieren. Sonias Fehlzeiten häuften sich. Schließlich teilte sie mir im April mit, dass sie es nicht mehr schaffen würde, zur Schule zu gehen. Was am Ende der Osterferien geschah, habe ich einleitend bereits geschildert.
Auf der Suche nach Lösungen
Glücklicherweise stieß ich im Rahmen einer weiteren Online-Recherche auf die Initiative 180 Grad Wende.
Anders als beim Verfassungsschutz hatte ich das große Glück, mit warmherzigen und verständnisvollen Menschen sprechen zu dürfen, die mich und meine schwierige Situation als Pädagogin verstanden und denen Sonias Wohl gleichermaßen am Herzen lag. Außerdem haben wir gemeinsam überlegt, wie wir am besten weiter verfahren sollten. Sonia würde noch ein letztes Mal in die Schule kommen, um sich abzumelden und ihre Bücher zurückzugeben.
Ein schwieriges Gespräch
Schulleitung, Sozialpädagogin und ich entschieden gemeinsam mit 180 Grad Wende, diese Situation beim Schopf zu packen und einen Kontakt herzustellen. Khadija, eine ehrenamtliche Mitarbeiterin des Vereins, kam freundlicherweise zu uns in die Schule, um Sonia zu empfangen und uns dabei zu unterstützen, dieses schwierige Gespräch zu führen. Sonia erschien im Niqab, ihre Hände hatte sie durch Handschuhe verhüllt. Zu unserer Überraschung befand sie sich in Begleitung ihres Mannes. Wir teilten den Eheleuten wahrheitsgemäß mit, dass wir gezwungen waren, die Sicherheitsbehörden zu verständigen. Denn bei der IS-Fahne handelt es sich um das Symbol einer terroristischen Vereinigung. Und es verboten ist, diese Banner zu zeigen. Die beiden erklärten sich nicht darüber klar gewesen zu sein, dass die Verwendung dieses Symbols unter Strafe steht.
Hilfestellung leisten
Außerdem versicherten wir den beiden, dass uns ihr Wohl aufrichtig am Herzen liegt. Deshalb empfahlen wir ihnen, die Unterstützung von 180 Grad Wende anzunehmen. Die Mitwirkung der ehrenamtlichen Mitarbeiterin des Vereins hat essenziell zum Gelingen des Gesprächs beigetragen, denn sie ist auch muslimischen Glaubens, trug ebenfalls ein Kopftuch und konnte zwischen uns als Schule und dem islamischen Ehepaar hervorragend vermitteln. Sie steht weiterhin mit Sonia in Kontakt.
Es ist für uns als Schule und für mich als Klassenlehrerin sehr beruhigend, dass wir unsere ehemalige Schülerin nicht nur sanktionieren mussten, sondern ihr eine so kompetente und warmherzige Unterstützung an die Seite stellen konnten.
Aussichten
Wir hoffen weiterhin, mit 180 Grad Wende zusammenarbeiten zu können und planen für die nächste Lehrerkonferenz einen Tagesordnungspunkt zum Thema: „Radikalisierung“, bei der wir uns wünschen, dass sich die Organisation mit ihren Zielen bei uns vorstellen wird. Auch eine Fortbildung zum Thema ist angedacht.
Von Christiane von Stechow-Welland
Lehrerin am Abendgymnasium Köln